Januar 2024
Knoten
Sie pustet sich in die Hände als sie das Restaurant betritt. Ihr Gesicht ist kaum zu sehen unter der flauschigen Kapuze. Schneeweiss ist sie.
Sie geht zu ihrer Mutter, die an einem Ecktisch des Restaurants sitzt, das Geschehen zu überwachen, die Gäste zu bewachen scheint. Alle aus halbgeöffneten Lidern ansieht. Schläfrig und hellwach. Dazu faltet sie Servietten. Nicht eben akkurat. Legt die einen auf einen Stapel zur rechten Hand, die anderen auf einen Stapel zur linken Hand. Weshalb die eine nach rechts, die andere nach links wandert, ist unklar.
Die Tochter beugt sich zur Mutter hinunter, drückt die Wange an die mütterliche Wange, stellt sich vor sie hin und beginnt zu erzählen. Unterstreicht mit Händen, was sie erlebt, was sie gesehen hat.
Beiläufig zieht sie dazu ihre Flauschjacke aus, rollt diese auf dem schweren Tisch aus dunklem Holz zu einem kleinen Ball zusammen. Zieht einen der hier üblichen pastellenen Plastiksäcke in hellblau heran, legt den weissen Ball hinein und knotet den Sack fest zu.
In der ersten Zeit nachdem sie hergezogen waren vor zwei Jahren, hatte sie das nicht getan.
Sie musste lernen, dass der Buchstabe P hier R bedeutete. Bis heute macht sie Fehler beim Schreiben, schirmt ihr Blatt jeweils mit der linken Hand ab. Schreibt ungenau, dass man Buchstaben so oder so deuten kann.
Als Stefan sich vor ein paar Monaten neben sie setzte nach der grossen Pause, war sie verwundert. Seit dem Sommer sass sie allein an einem Zweierpult. «Du stinkst.», zischte er. Eine Schlange.
Obwohl sie wusste, dass das nicht sein konnte, dass sie am Abend zuvor gebadet, ihr Haar gewaschen hatte. Mit der Rosenseife, die sie eigentlich nicht brauchen durfte, weil sie ihrer älteren Schwester gehörte. Die sich so gut aufschäumen liess, deren Bläschen sie pusten konnte. Rosenrot. Wölkchen am Abendhimmel.
«Du stinkst.»
«Wie ein ganzes indisches Restaurant stinkst du.», wiederholte er.
Da war eine Stille in ihr. Sie sah starr geradeaus, gab vor, dem Unterricht zu folgen. Schrieb die Rechnungen akribisch von der Wandtafel in ihr Rechenheft ab.
Er sah sie von der Seite an, immer wieder. Sie spürte seine Blicke. Feine Messerstiche auf ihrer Haut. Ihrer braunen Haut, dachte sie plötzlich.
In der nächsten Pause ging sie aufs Klo, hastig ging sie, verstohlen, sah sich nicht um. Sie schloss die Tür hinter sich ab, versuchte den Türknauf noch ein weiteres Mal zu drehen, und roch an sich, an ihrem Ärmel. Zog den Pulli im Brustbereich hoch. Hob die Arme, den rechten, den linken, roch an ihren Achselhöhlen.
Sie roch keinen Schweiss.
Sie roch würzig. Der Geruch erinnerte sie an das Haus ihrer Grossmutter. An die Wärme, das Meer, das man hört. Das andauernde Brechen der Wellen am kleinen Felsenstrand.
Und von Fern war da immer noch Rose.
Nach Unterrichtsschluss trödelte sie, um nicht mit den anderen das Klassenzimmer verlassen zu müssen. Der Lehrer, Herr Ilic, war schon lange gegangen. «Schliess die Tür hinter dir.», hatte er ihr gesagt.
Nicht unfreundlich.
Als sie das Schulgebäude verliess, sah sie eine Gruppe ihrer Klasse, Stefan einer von ihnen. Sie sahen zu ihr herüber. Die Fäuste geballt, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Sie ging zur Bushaltestelle gegenüber. Setzte sich auf die Wartebank. Bald war sie nicht mehr zu sehen hinter den Leuten, die vor ihr auf den Bus warteten, eifrig, die Hälse reckten. Die so anders warteten als bei ihr Zuhause. Auch sie sah Unterschiede. Jetzt. Hatte diese schon immer gesehen, aber sich nichts dazu gedacht.
Es war halt so.
Im Bus presste sie ihre heisse Wange an die kalte Scheibe, sah schon von weitem die grosse Baustelle, aus der das Haus wie ein Zahn im Mund eines alten Mannes ragte. Sie stieg aus, blieb mit der Hose hängen, fing sich wieder. Sah zu den Fahrgästen im Bus.
Auch sie ekelten sich vielleicht vor ihrem Geruch. Hier muss man nach Zigarettenrauch und gegrilltem Hähnchen riechen. Nach Weihrauch und starkem Aftershave, dachte sie für sich.
Daheim ging sie ohne eine Wort durch das Restaurant, die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Legte sich aufs Bett, dessen rote Tagesdecke die Wände in ein sanftes Licht tauchten.
Sie presste die Augen zusammen, doch es kamen keine Tränen. Da war nur etwas Grosses, Schwarzes in ihrem Bauch, ein Tier, ein hungriges, das Licht frass.